(Kurz-)Geschichten

Heute

Als er aufwachte, wusste er, dass heute sein großer Tag war. Heute würde er ihn schreiben, den großen Artikel, die Story seines Lebens. Sorgfältig suchte er seine Sachen zusammen – Wäsche, Socken, Hosen, ein Hemd. Nur seinen Ausweis fand er nicht. Den Ausweis, der allen bewies, dass er, Eberhard Sandling, Journalist war, dass er, Eberhard Sandling, das Recht hatte, sie zu befragen, dass er, Eberhard Sandling, den Artikel seines Lebens schrieb. Erna musste den Ausweis verlegt haben, Erna verlegte immer alles. Auf Erna war kein Verlass, überhaupt kein Verlass.

Er öffnete die Tür und brüllte nach seiner Frau. Aber die langen Gänge blieben leer. Er schrie lauter – „Erna!!!“ In einem Nebenzimmer öffnete sich eine Tür und eine Schwester kam heraus. Sie liefen hier immer herum, diese Schwestern, ständig.

„Aber Herr Sandling, sie werden ja all die anderen Patienten wecken! Es ist doch erst sieben Uhr morgens.“ Die anderen Patienten, ha, immer sprachen alle nur von den anderen Patienten. Er konnte nicht verstehen, warum.

„Ich gehe jetzt“, verkündete er wichtig. Die Schwester nickte. Sie fragte ihn noch nicht einmal, wohin. Dann eben nicht. Dann würde sie eben nicht erfahren, dass heute sein großer Tag war. Dann würde er es eben Erna erzählen, wenn er wieder nach Hause kam. Jawohl!

„Aber seien Sie pünktlich zum Frühstück wieder auf Ihrem Zimmer. Herr Witgen ist übrigens auch unten im Saal.“ Die Schwester gähnte und ging wieder zurück in ihr Zimmer. Sie hatte ja keine Ahnung, keine Ahnung hatte sie. Er wollte nicht in den Saal, nein, er wollte raus.

Vor dem Tor musste er erst einmal stehen bleiben und nachdenken. Es kam ihm alles so unbekannt vor, als sei er noch nie hier gewesen. Rechts der Garten mit den Apfelbäumen, links riesige Eichen, die den Straßenrand säumten und den halben Fußweg beanspruchten. Geradezu, ein riesiger Wohnblock, mit hunderten von Balkons, darauf Sonnenschirme, Wäscheständer. Nein, das kannte er nicht, wie kam er eigentlich hierher? Nur wenige Leute waren auf der Straße, einige Arbeiter, eine alte Frau mit zwei leeren Einkaufstaschen. Aber alle schienen zu wissen, wohin sie zu gehen hatten. Nur er nicht, nein, er nicht.

Er würde sie einfach fragen. Das konnte schließlich passieren, dass man sich mal verlaufen hatte, dass man den Weg nicht wusste, jedem konnte das passieren.

Eine Stunde später stand er vor einem Backsteinhaus mit weißen Fenstern, davor ein gefälliger Garten mit Buchsbaumheckchen. Der Weg hierher hatte sich als schwierig erwiesen, ständig hatte er jemanden suchen müssen, den er fragen konnte. Aber die Leute waren ja so hilfsbereit, so freundlich. Er hatte sie richtig gern gefragt.

Nun war er hier. Er würde damit beginnen, die Nachbarn zu interviewen. Drei Schritte nach rechts, weißes Gartentor, Rhododendronbüsche. Er klingelte. Niemand öffnete. Was dachten sich die Leute eigentlich? Er klingelte beim linken Nachbarn; eine junge Frau mit grell gefärbten Haaren riss einige Minuten später die Tür auf und überhäufte ihn mit einem Schwall von Worten, von dem er nur die Hälfte verstand.

„Unverschämter… Um diese Zeit… Was wollen Sie eigentlich?“

„Der Artikel… Ich will doch nur meinen Artikel schreiben!“ Die Frau hatte ihn vollkommen verwirrt. Er wusste gar nicht mehr, was er sagen sollte. Aber so ging das nicht. Er holte tief Luft. „Ich will Sie interviewen!“ Jetzt war es heraus. Ganz klar und deutlich.

„Sie?“ Das war keine Frage, mehr ein Aufschrei, ein Fragezeichen in Person. Die Frau musterte ihn von oben bis unten. „Sie? Gehen Sie mal lieber schlafen. Ihre Frau wartet bestimmt auf Sie.“ Damit schloss sich die Tür. Einfach so, vor seiner Nase. Er war entrüstet, so ging man nicht um mit ihm, Eberhard Sandling.

Er ging zurück zur Straße, blieb vorm Tor des Backsteinhauses stehen. Irgendetwas verunsicherte, verwirrte ihn. Wenn er nur wüsste, was es war! Aber dann fiel es ihm ein – es war sein Haus! Warum parkte denn ein fremdes Auto davor? Entschlossen schritt er zur Tür, klingelte energisch, einmal, zweimal, viermal. Nach einer Weile öffnete ein Mann, verschlafen noch, nur mit Schlafanzughosen bekleidet. Stumm wartete er, was der frühmorgendliche Besucher von ihm wollte. Er sah kein bisschen schuldbewusst aus!

„Was machen Sie in meinem Haus? Hier wohne ich! Wo ist Erna?“

Der Mann holte kurz Luft, wie um sich zu rechtfertigen, schwieg dann aber. Wieder wurde er gemustert, von oben bis unten; was starrten ihn die Leute nur immerzu an?

Wer war das, dieses kleine Männchen mit den viel zu weiten Hosen, die doch zu kurz waren und den Blick auf zwei verschiedene Socken freigaben, die in sonderbar zugeknoteten Schuhen steckten? Wer war der Mann mit dem Hut, den er, vollkommen schief, tief ins Gesicht gezogen hatte und der doch nicht die Narben, die hässlichen Narben, die das gesamte Gesicht bedeckten, verstecken konnte? Was wollte er hier, Sonntag früh acht Uhr, wenn alle noch schliefen?

Schweigen. Ein kleines Mädchen hüpfte die Treppe herunter, lugte um die Ecke, versteckte sich schnell wieder. Trappelnde Füße die Treppe hinauf. Das Geräusch von einem Ball, der die Stufen herunter springt. Das Geräusch von einem Ball, der die Stufen herunter sprang. Hopp... Hopp, hopphopphopphopphopp… Das Geräusch… Er stand wie erstarrt. Der Ball rollte vor die Füße des Mannes, prallte gegen den Schrank, blieb liegen. Hopphopphopphopphopp. Flammen, Hitze, das Knistern und Knacken des Feuers. Erna. Erna! Er schrie, schrie, es war alles wieder da, Flammen, Flammen überall. Und der Ball. Der Ball! Das Knacken. Ernas Gesicht, es löste sich auf, Rauch, nur noch Rauch. In der Ferne eine Sirene. Dunkelheit.

Stimmen. Ein Schatten im Grau. Er blinzelte, öffnete ein Auge. Die Schwester beugte sich über ihn. Die Schwester! Er lächelte. Die Sonne schien durchs Fenster.

"Aber Herr Sandling, Sie haben uns vielleicht einen Schrecken eingejagt! Das dürfen Sie aber nicht wieder machen, nicht wahr? Sehen Sie, nun geht es Ihnen aber schon besser, nicht wahr? Die Sanitäter tragen Sie jetzt zum Auto, dann fahren wir nach Hause. Ich bin mir sicher, dass die Köchin Ihnen noch etwas Gutes zum Frühstück aufgehoben hat, und dann können Sie noch ein wenig schlafen. Nicht wahr, Herr Sandling? Warten Sie nur, bis wir zu Hause sind, dann werden Sie sehen…"

Autotüren klappten, der Motor wurde gestartet. Der Mann schloss die Haustür hinter sich und tappte zurück ins Schlafzimmer.

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Anmerkung: Die Namen und Personen der Geschichte habe ich mir selbstverständlich nur ausgedacht; sie haben keine realen Vorbilder!

Luise Kamusella

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